Karlie Apriori
DIE MACHT DER GEWOHNHEIT
Einer meiner miesesten Gewohnheiten unterliege ich just in diesem Moment, als ich diese Kolumne schreibe. Es ist ein Tag vor dem verlängerten Wochenende in Spanien und ich habe noch genau diese eine Sache auf dem Zettel. Meine Kolumne zu schreiben und einzulesen. Dann wäre alles erledigt. Dann könnte ich reinsten Gewissens heute Abend noch die neue Star Trek Folge schauen, packen und morgen vor Sonnenaufgang in den Kurzurlaub düsen. Endlich ein paar freie Tage, vollgestopft mit Nichtstun, wonach ich mich schon lange gesehnt habe. Außer natürlich ich bekomme den Text nicht fertig.
Ich habe dieses unangenehme Phänomen seit ein paar Monaten bewusst auf dem Schirm und observiere. Diese Tendenz, kurz vor Fertigstellung, kurz vor Erlösung, kurz vor der Ziellinie und kurz vorm Gewinnen auf einmal ganz unkonzentriert, ganz müde, ganz schlapp und ganz demotiviert zu sein. Und dabei fehlt meistens nur noch ein Fingerbreit Arbeit, im Gegensatz zu dem Berg, den ich schon weggeschafft habe, wie man so schön sagt. Die Möglichkeit, dass es der Wahrheit entspricht, dass ich wirklich zu kaputt bin, um etwas zu beenden, habe ich gecancelt. Bullshit. Sorry myself. Aber wir müssen uns der Realität stellen. Something’s fishy here. Das sieht eher aus wie eine ganz schlechte Angewohnheit, ein Verhalten, welches ich maximal fehl am Platz finde, weil es mir im Weg steht. Ich stehe mir im Weg. Denn eigentlich will ich doch, dass heute noch alles fertig wird und ich entspannt nach Hause und morgen in den Flieger chillern kann.
Glücklicherweise habe ich festgestellt, dass ich in meinem Leben immer wieder versuche, eine bessere Version von mir selbst zu werden. Ungezwungene, aber beständige Selbstreflexion. Ist-Zustand versus Soll-Zustand. Ideen, Pläne, Listen. Mein Leben ist halt immer ein bisschen Hornbach-mäßig: Es gibt immer was zu tun. Jippiejaja-jippiejippie-yay! Die Hoffnung besteht also, dass ich diese Eigenart überwinden werde. Allerdings glaube ich auch, dass es einen ganzen Batzen Zeit dauern kann. Denn Gewohnheiten sind wie die Gravitation, es braucht eine unfassbare Anstrengung, sie hinter sich zu lassen. Oft werde ich beim Versuch bockig und trotzig und finde viele Ausreden, warum ich doch alles so machen muss, wie immer. Den richtigen Brennstoff für die Veränderung zu entwickeln, halte ich tatsächlich für eine Art Raketenwissenschaft.
Bewusst pimpe ich mein Leben kontinuierlich seit einigen Jahren. Es sind nur wenige Tage, an denen ich dieses Hobby als lästig und anstrengend empfinde. Ehrlich gesagt finde ich daran viel Gutes. Immerhin versuche ich nicht ein besserer Codeknacker oder Bankräuber zu werden, sondern ich versuche die Vorstellungen, die ich von mir und meinem Leben habe, zu erreichen. Man könnte auch ganz einfach davon sprechen, dass ich mir meine Herzenswünsche erfüllen möchte. Nur eben geht es hierbei nicht um den Fallschirmsprung oder die blaue Couch auf Katalogseite 162. Es geht um Träume, die mich immer wieder an meine Grenzen bringen und, damit sie in Erfüllung gehen, muss ich es auch immer wieder darüber hinaus schaffen.
Um weiter zu kommen, muss ich es also hinbekommen, alte Gewohnheiten hinter mir zu lassen. Denn leider ist es nicht damit getan, zu wissen, was man tun und lassen möchte. Es ist getan, wenn es getan ist. Und das ist der Punkt, wo ich mir, wie heute eben auch, gerne mal die Zähne ausbeiße. Völlig egal, was ich auf dem Optimierungs-Zettel stehen habe, ich brauche meistens mehrere Anläufe. Es sind neue Themen wie vegane Ernährung oder alte, leidige Themen wie körperliche Fitness. Bei manchen werde ich mit jedem Anlauf besser, halte länger durch, bis ich „rückfällig“ werde, bis zu dem Punkt, wo ich es einfach komplett geändert habe. Bei anderen Themen fange ich immer wieder bei Null an.
Rauchen, zum Beispiel, war verhältnismäßig einfach. Von mehreren am Tag, über Partyraucher, zu vier im Jahr, zu halbjährlich eine anzünden und sie nach zwei Zügen wieder auszumachen bis hin zu „gehört nicht mehr zu mir“. Zwar ein Prozess, der über mehrere Jahre ging, auch mal mit dem bekannten einen Schritt vor und zwei zurück, aber am Ende jetzt auch einfach erledigt. Regelmäßige Bewegung dagegen – schwierig. Manchmal ja, manchmal nein. Das Bedürfnis, morgens direkt den Laptop in die Hand zu nehmen oder die Gitarre, ist einfach zu stark. Weil ich es auch einfach liebe, mit Schreiben oder Komponieren in den Tag zu starten. Nur der Abends-Sport-Typ bin ich halt auch nicht.
Die meisten schieben ihre Nicht-Veränderung auf den Schweinehund. Wie auch immer er aussehen mag - das arme Vieh hat mein Mitgefühl. Recht haben sie zwar, aber wollen wir das Biest mal beim richtigen Namen nennen? Es sind unsere Gewohnheiten. Und wir sind – wie das Wort schon sagt - so an sie gewöhnt, dass es uns einfach mordsmäßig schwer fällt, ihnen nicht mehr nachzugehen. Würden wir sie aufgeben, würden wir uns aufgeben. Plötzlich wären wir nicht mehr die Person, die wir kennen und die tut, was sie kann. Wir wären jemand Anderes, jemand Neues, der das Leben ganz anders handelt. Man muss quasi aus seiner eigenen Haut raus.
Gewohnheiten sind Muster. Sie passieren automatisch und aus einem Grund, der uns meistens unbekannt ist. Dagegen anzukämpfen bedeutet sich ständig zu ermahnen, es anders zu machen. Der Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen. Wenn ich also immer nur die Erfahrung gemacht habe, Dinge nicht zu Ende zu bringen und nicht zu gewinnen (und das habe ich echt viele Jahre in meinem Leben so gemacht aus mir mittlerweile bekannten Gründen), dann ist das etwas, das mich ausmacht. Ich muss also eine neue Erfahrung machen. Zum Beispiel heute noch diesen Text zu beenden. Ich muss Erfolgserlebnisse feiern und so oft wie möglich gewinnen. Genauso war das mit dem Rauchen. Ich habe einfach so oft wie möglich nicht mehr geraucht. Denn de facto ist es nicht schwer, nicht zu rauchen. Man tut es nämlich einfach nicht. Und es ist auch nicht schwer, einen Text zu Ende zu schreiben. Deswegen mache ich das jetzt einfach. Und so kriegt man, peu à peu, jede Gewohnheit los.
Auch wenn es kein leichter Prozess ist meine Gewohnheitsquallen vom Beim zu schütteln, habe ich ja ursprünglich nur mit der Selbstoptimierung angefangen, weil ich mir davon ein besseres Leben oder ein besseres Selbst erhoffe, mit dem ich dann mehr zufrieden bin. Und einige abgelegte Gewohnheiten später kann ich sagen – genau das ist auch passiert. Auch wenn die Euphorie nicht anhält, weil es den Glanz des Alltags, das ewige Glücksgefühl leider nicht gibt, bleibt doch unterschwellig immer das Gefühl der Zufriedenheit und der Beseeltheit. Irgendwie ist man für sich eine Stufe höher geklettert. Manchmal genieße ich auch einfach nur die Abwesenheit von Wut auf die Welt und auf mich, weil ich doch wieder etwas gemacht habe, was ich nicht mehr machen wollte.
Wenn man anfängt, Gewohnheiten als unpassend oder in meinem Jargon ausgedrückt, scheiße zu finden, dann ist das ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass sie einem bei der Erfüllung seiner Träume im Weg stehen. Deswegen habe ich neben dem Rauchen auch noch ein paar andere Verhaltensmuster aufgegeben: Mehr Geld auszugeben, als ich habe. Im Elend zu baden oder mitleidig mit mir selbst zu sein. Das Schwierigste war sicherlich erst einmal die Erkenntnis, dass ich überhaupt so bin, aber wenn man weiß, wer der Feind ist, kann man ihn auch bekämpfen. Und dann schafft man es eben auch aus seiner Comfort-Zone und über die alten Grenzen hinaus. Zum schönsten Fleck – dem Unbekannten. Ein Ort, an dem ich ein bisschen jemand Neues, aber näher an mir und deswegen stolz, vor allem aber glücklich bin. Ich habe mir etwas gegönnt. Ich habe etwas für mich getan. Und spätestens dann weiß ich auch, dass es alle Mühe wert war.